Sagittale Balance

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Die sagittale Balance der Wirbelsäule beschreibt die physiologische Ausrichtung der Wirbelsäule in der Sagittalebene, die es dem Körper ermöglicht, mit minimalem Muskelaufwand eine aufrechte Haltung einzunehmen. Die sagittale Balance ist entscheidend für eine effiziente Körperhaltung und Bewegung, insbesondere beim aufrechten Gang (Bipedalismus), der den Menschen charakterisiert. Beim Gehen wird dieses Gleichgewicht durch den Einbeinstand ständig herausgefordert.

Definition und Parameter

Die Analyse der sagittalen Balance umfasst definierte Parameter auf Becken-, Wirbelsäulen- und Schädel-Ebene[^1].

Beckenparameter

Das Becken wird als "Beckenwirbel" oder Basis der Wirbelsäule betrachtet. Seine räumliche Orientierung beeinflusst maßgeblich die Ausrichtung der Lendenwirbelsäule und damit der gesamten Wirbelsäule. Wichtige Beckenparameter sind:

Spinale Parameter

Die Wirbelsäule weist physiologische Krümmungen auf: Halslordose, Brustkyphose und Lendenlordose.

Zervikale Parameter

  • Obere Halslordose (O-C2): Gemessen zwischen der McGregor-Linie und der unteren C2-Endplatte; immer lordotisch (ca. 15.8° ± 7.15°).

  • Untere Halslordose (C2-C7): Gemessen zwischen der unteren C2- und C7-Endplatte; kann lordotisch, kyphotisch oder neutral sein, abhängig vom C7-Slope.

  • C7 Slope: Neigung der oberen C7-Endplatte zur Horizontalen; Medianwert ca. 20°.

  • Spino-kranialer Winkel (SCA): Winkel zwischen der Tangente an die obere C7-Endplatte und der Linie vom Mittelpunkt der C7-Endplatte zur Sella turcica; Mittelwert ca. 83° ± 9° in asymptomatischen Patienten.

  • Zervikaler Sagittaler Vertikaler Achsenabstand (Zervikale SVA): Horizontaler Abstand zwischen den Lotlinien von C2 und C7.

Thorakale Parameter:

  • Thorakale Kyphose (TK): Gemessen zwischen der oberen T1- und unteren T12-Endplatte.

Lumbale Parameter:

  • Lumbale Lordose (LL): Gemessen vom Inflektionspunkt (Übergang zur TK) zur oberen S1-Endplatte. Etwa zwei Drittel der LL befinden sich in den unteren beiden Segmenten (L4-S1). Der Apex der Lordose (vorderster Punkt) liegt meist zwischen L3 und L5.

Globale Balance Parameter

Zur Beurteilung der Gesamtbalance werden verschiedene Parameter verwendet:

  • C7 Lotlinie (C7 Plumb Line): Vertikale Linie vom Mittelpunkt des C7-Wirbelkörpers. Sollte idealerweise durch die posterosuperiore Ecke von S1 verlaufen. Eine zentrale C7-Lotlinie garantiert jedoch keine adäquate spino-pelvine Ausrichtung (kompensierte Balance möglich).

  • Sagittale Vertikale Achse (SVA): Horizontaler Abstand zwischen der C7-Lotlinie und der posterosuperioren Ecke von S1. Normal < 5 cm, aber altersabhängig und muss im Kontext der PI betrachtet werden. Korreliert mit Lebensqualität.

  • Spino-Sakraler Winkel (SSA): Winkel zwischen der Linie vom C7-Zentrum zum S1-Zentrum und der Tangente an die S1-Endplatte. Normalwert ca. 135° ± 8°.

  • C7/SFD Ratio (Barrey Index): Verhältnis, das die C7-Lotlinie zur Position der Femurköpfe und des Sakrums in Bezug setzt, um die Beckendicke zu berücksichtigen. Normalwert ca. -0.9 ± 1.

  • T1 Pelvic Angle (TPA): Winkel zwischen der Linie vom T1-Zentrum zu den Femurköpfen und der Linie vom T1-Zentrum zum S1-Zentrum. Zielwert < 14°.

  • Full Balance Index (FBI): Index zur Abschätzung des Korrekturbedarfs bei Imbalance

  • Odontoid-Hip Axis Angle (OD-HA): Winkel zwischen der Vertikalen und der Linie vom höchsten Punkt des Dens axis (C2) zur Hüftgelenksachse. Gilt als sehr stabiler Parameter (Normal +2° bis -5°) unabhängig vom Alter bei Asymptomatischen und integriert die gesamte Wirbelsäule inklusive Kopf. Ein positiver OD-HA (>+2°) deutet auf eine Imbalance hin.

Beziehungen zwischen Parametern

Es bestehen enge Korrelationen zwischen den Parametern[^1]:

  • PI und LL: Es gibt eine starke Korrelation zwischen PI und der benötigten LL. Eine neuere Formel basierend auf 3D-Analysen lautet: LL(L1−S1)​=0.54×PI+27.6∘. Die ältere Formel PI=LL±9∘ ist oft ungenau, besonders bei hohen PI-Werten.

  • SS und LL: Es besteht eine starke Korrelation zwischen diesen Werten. Die untere Lordosekurve entspricht etwa dem SS-Wert.

  • PI und PT/SS: Diese sind über die Formel PI=PT+SS verbunden. Es gibt Formeln zur Abschätzung der theoretischen Normalwerte, z.B. PT=0.44×PI−11.4∘ und SS=0.56×PI+31.3∘.

Altersbedingte Veränderungen

Mit dem Altern kommt es physiologischerweise zu degenerativen Veränderungen, insbesondere der Bandscheiben, was zu einem Verlust der Lendenlordose führen kann. Dies stört das spino-pelvine Gleichgewicht. Der Körper versucht, dies durch Kompensationsmechanismen auszugleichen, um eine aufrechte Haltung und einen horizontalen Blick aufrechtzuerhalten.

Sagittale Balance im Alter
Veränderung der sagittale Balance im Alter. Abbildung adaptiert von Le Huec, J.C., Thompson, W., Mohsinaly, Y. et al. Sagittal balance of the spine. Eur Spine J 28, 1889–1905 (2019). DOI: 10.1007/s00586-019-06083-1

Klinische Relevanz

Das Verständnis der sagittalen Balance ist entscheidend für die Therapieplanung, insbesondere bei Wirbelsäulenoperationen wie Spondylodesen oder Korrekturosteotomien. Ziele sind die Wiederherstellung einer harmonischen, ökonomischen Balance unter Berücksichtigung der individuellen PI und der Kompensationsfähigkeit des Patienten.